Aargauer Zeitung – Einzigartig in der Schweiz: So werden im Aargau Kunstturner der Spitzenklasse gefördert

Jeweils zehn Aargauer Knaben und Mädchen profitieren in Niederlenz von der idealen Verbindung zwischen Schule und Spitzensport. Die Aargauer Zeitung hat sie im Aargauer Turnzentrum und in der Klasse besucht.

Um 13.30 Uhr wird’s eng in Niederlenz. Auf dem kleinen Zufahrtsträsschen zum auf dem Hetex-Arena gelegenen Aargauer Turnzentrum stauen sich die Autos, die fast alle gleichzeitig eintreffen. Es geht zu wie im Bienenhaus. Aus den Autos steigen grössere und kleinere Mädchen aus. Sie verschwinden eines nach dem anderen in der alten Fabrikhalle, in welcher das Epizentrum der Aargauer Kunstturnerinnen und Kunstturner beheimatet ist. Aus allen Teilen des Kantons Aargau sind die Kinder gekommen, um das zu tun, was sie am allerliebsten tun: turnen, und zwar auf allerhöchstem Niveau.

Drinnen wärmen sich kurz darauf gegen 30 Turnerinnen im Alter zwischen 5 und 15 Jahren auf. Es ist der Auftakt zu einer dreieinhalb Stunden dauernden Trainingseinheit. Unter der Aufsicht von Cheftrainer Renato Gojkovic und seinen vier Assistentinnen bevölkern die jungen Athletinnen nun den grossen, verwinkelten Saal. Hier üben die Kleinsten den Spagat, dort trainieren die Grössten Ballettfiguren, da versuchen sich die Mittelgrossen mit neuen Bodenturn-Elementen. Später natürlich auch am Schwebebalken, beim Sprung, am Stufenbarren – das volle Programm. Immer hoch konzentriert, aber auch meistens mit einem Lächeln auf den Lippen. Selbst wenn höchste Disziplin gefragt ist, so hat man als Beobachter nicht das Gefühl, dass die Mädchen nicht ihren Spass haben. Im Gegenteil: Die Leidenschaft für ihren Sport ist bei den Mädchen durch und durch spürbar.

Ohne Leidenschaft geht es nicht. Besonders nicht bei denen, die Teil des «Regelschulmodells Kunstturnen» sind: Denn diese Kinder mit Jahrgang 2010 bis 2006 haben ein Mammutprogramm zu erledigen. Am Vormittag besuchen die zehn Kunstturnerinnen des Aargauer Elitekaders in der Regel die normalen Schulen an ihrem Wohnort. So wie auch die Kunstturner, bei denen die älteren teilweise aber schon eine spitzensportfreundliche Lehre machen, die neben der beruflichen Ausbildung genügend Raum lässt für die Trainings- und Wettkampffenster. Zweimal die Woche wird «2-Phasen» trainiert. Nur am Mittwoch sind die Kunstturnerinnen und Kunstturner den ganzen Tag in Niederlenz. Allerdings wird auch hier nicht nur trainiert.

Zwar verbringen die angehenden Leistungssportler bis zu 25 Stunden pro Woche im Turnzentrum selbst, gut sechs Stunden aber auch noch in den schulischen Förderlektionen. Dort können sie den Stoff lernen oder nachholen, den sie im normalen Unterricht in ihren Schulklassen verpassen. Im nahegelegenen Schulhaus in Niederlenz kümmert sich die Lehrerin Anne Sophie Hunziker, die früher selber begeisterte Kunstturnerin war, im fünften Jahr um die schulischen Belange der Kids. Sie zeigt sich beeindruckt davon, wie diese jungen Leistungssportler mit der grossen Belastung umgehen: «Man bemerkt bei den Kunstturnern die ausgeprägte Fähigkeit, sich zu konzentrieren und auf eine Aufgabe zu fokussieren. Die Eigenschaft, die sie im Sport brauchen, zeigen sie auch im Unterricht.»

Das wichtige Gespür für die Bedürfnisse der Kinder 

Während die Mädchen im Turnzentrum zu Gange sind, sitzen wenige hundert Meter Luftlinie entfernt zehn Jungs einzeln an Pulten verteilt im Schulzimmer. Anne Sophie Hunziker dreht ihre Runden, hilft da im Französisch, dort im Rechnen und hier bei der Sprachaufgabe. Sie ist die Schaltstelle zwischen den einzelnen Schulen und den Kindern, steht im ständigen Austausch mit Lehrern, Eltern und auch den Trainern. Hunziker schwärmt von der ausgezeichneten Kooperation mit den Schulen der Kinder: «Die Unterstützung funktioniert bestens. Ich darf mit ganz tollen Lehrpersonen und ganz tollen Schulen zusammenarbeiten.» Sowieso: Das Gespür für die Bedürfnisse und Sorgen der Kinder ist in so einem fordernden Umfeld essenziell. David Huser, Chef Spitzensport des Aargauer Turnverbands, sagt: «Man ist sehr nah am Geschehen und kann so schnell reagieren, wenn ein Problem auftaucht.»

Anders ausgedrückt: Wer sich für das Modell Spitzensport und Schule entscheidet, der tut dies im Wissen um alle Risiken und Nebenwirkungen. «Unser Auswahlverfahren ist sehr gründlich», erklärt Huser. «Nur, wenn von allen Beteiligten das nötige Commitment spürbar ist, dann wird das Kind ins Elitekader aufgenommen.» Entsprechend klein ist die Quote der Aussteiger, trotz der hohen Belastung. Wer zu diesem exklusiven Zirkel gehört, der profitiert von einem in der Schweiz einzigartigen Trainings- und Schulmodell, welches dank des finanziellen Supports durch den Kanton Aargau (BKS) auch punkto monetärer Investition für alle Beteiligten tragbar ist. Vor 20 Jahren wurde das Regelschulmodell Kunstturnen im Aargau lanciert. Erst nur für die Jungs, seit 2012 aber auch für Mädchen. Huser erklärt: «Das Pensum ist riesig. Training, Schule, Transport, Regeneration. Durch unser Modell können wir alle Faktoren ideal miteinander vereinbaren.»

Die Grundvoraussetzung ist natürlich das ausgeprägte, sportliche Talent. Man benötigt die nationale Karte von Swiss Olympic, um überhaupt in die engere Auswahl zu kommen. Entsprechend hoch ist das Niveau. «Wer in dieser Gruppe mittrainiert, gehört zu den besten Nachwuchs-Kunstturnern, die die Schweiz zu bieten hat», sagt David Huser mit Blick auf die Jungs, die nach ihrer Schullektion mittlerweile den fliegenden Wechsel ins Turnzentrum hinter sich gebracht haben. Mit Vater Nikolaj und Sohn Sergej Maslennikov arbeiten in Niederlenz seit 20 Jahren zwei ausgewiesen Profitrainer aus Russland mit den besten männlichen Kunstturntalenten des Kantons Aargau. Schon spätere Olympiateilnehmer und EM-Medaillengewinner wie Oliver Hegi, Christian Baumann oder Lucas Fischer wurden von den beiden in Niederlenz zu Spitzenturnern geschliffen.

Mittlerweile ist es Abend geworden. Ein weiterer langer Tag neigt sich für die jungen Leistungssportler dem Ende zu. Während ein Teil der Turntalente den Weg an den Lenzburger Bahnhof in Angriff nimmt, ist auch die Autokarawane wieder nach Niederlenz zurückgekehrt. Die Eltern nehmen ihre Kids in Empfang und machen sich auf den Heimweg zu ihren im ganzen Kanton Aargau zerstreuten Wohnorten. Bis zum nächsten Training.

 

Text: Marcel Kuchta, Aargauer Zeitung, 20.02.2021 / Bilder: Alexander Wagner

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